Aufruhr bei Volkswagen – “Es geht um alles”

Wolfsburg (Reuters) – Mit Pfiffen und Buhrufen haben tausende Mitarbeiter auf der Betriebsversammlung von Volkswagen auf die drastischen Sparpläne des Managements reagiert.

Nach der Beschreibung von Teilnehmern kam es am Mittwoch zu tumultartige Szenen in der vollbesetzten Halle 11 im Stammwerk Wolfsburg, als Finanzchef Arno Antlitz für seinen Sparkurs inklusive möglicher Werksschließungen warb. Der Absatz für zwei Werke fehle, sagte der Manager, der europäische Markt sei immer noch weit unter dem Niveau, das er vor der Corona-Krise erreicht habe. “Der Markt ist schlicht nicht mehr da”, sagte Antlitz laut Auszügen aus dem Redemanuskript. Dazu kämen hohe Kosten. Immer wieder sei seine Rede von Zwischenrufen unterbrochen worden, heißt es aus Teilnehmerkreisen – “Wenn Ihr so weitermacht, dann schaffen wir das bestimmt nicht!” oder “Guckt mal in eure Taschen, wo das Geld ist!”

Betriebsratschefin Daniela Cavallo kritisierte vor ungefähr 25.000 Volkswagen-Beschäftigten die Sparpläne des Unternehmens. “Das ist Ihre Antwort auf die Krise? Ist das alles, was Ihnen einfällt”, sagte sie. “Ich sag Ihnen mal, was das ist: Das ist nicht nur ein Armutszeugnis. Das ist eine Bankrotterklärung.” Sie habe immer wieder Szenenapplaus erhaltan, sagten Teilnehmer. “Mit mir, Daniela Cavallo, Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende der Volkswagen AG, wird es hierzulande keine Werksschließungen geben”, betonte sie. Kündigungen, Werksschließungen und Einschnitte beim Gehalt “wären nur in genau einem Szenario zulässig. Und zwar dann, wenn das ganze Geschäftsmodell gestorben ist”. Cavallo verwies auf die Bedeutung der VW-Werke für die Städte, in denen sie liegen. “Es geht um alles.” Nach der Betriebsversammlung betonte sie die Kampfbereitschaft der Mitarbeiter. “Die Belegschaft hat heute gezeigt, dass sie auch bereit sind, diesen Weg mit uns zu gehen.”

Die Stimmung sei angespannt gewesen, berichtete ein Teilnehmer, aber zugleich hätten die Beschäftigten dem Management zugehört. Auch Konzernchef Oliver Blume stellte sich der Belegschaft, betonte seine Herkunft aus Wolfsburg und sagte, er setze seine gesamte Kraft für die Marke ein. Das sei durchaus auf Wohlwollen bei den Volkswagen-Mitarbeitern gestoßen, hieß es. Bei diesen ist derweil die Verunsicherung groß. VW-Arbeiter Klaus Ramünke sagte auf dem Heimweg nach der Veranstaltung, die Stimmung in der Belegschaft sei schlecht. Die Probleme seien hausgemacht, sie kämen nicht von den Mitarbeitern, sondern vom Management. “Deswegen ist es natürlich gravierend, was jetzt gesagt wurde.”

Volkswagen hatte am Montag angekündigt, den Sparkurs zu verschärfen. Dabei wird die seit drei Jahrzehnten geltende Beschäftigungssicherung aufgekündigt, die Schließung von Auto- und Komponentenwerken in Deutschland steht im Raum. Für das Unternehmen wäre das ein Novum: Noch nie seit Gründung von Volkswagen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde eine Produktionsstätte in Deutschland geschlossen. Volkswagen betreibt in Deutschland elf Produktionswerke – sechs für die Fahrzeugmontage und fünf Komponentenwerke. Rund 120.000 Beschäftigte arbeiten hiezulande für den Konzern.

Dabei sind die hohen Kosten bei Volkswagen in Deutschland nicht neu – wurden jahrelang aber durch die satten Gewinne im China-Geschäft überdeckt. Aber jetzt komme kein Scheck mehr aus China, sagte Blume laut Teilnehmerkreisen bei der Betriebsversammlung. Der Wolfsburger Konzern hat bei Elektroautos den Anschluss in der Volksrepublik verloren, heimische Wettbewerber greifen mit Kampfpreisen an. Auch auf dem US-Markt gebe es massive Probleme, sagte Cavallo: “Ich traue mich die Zahl gar nicht zu nennen, so groß ist sie.”

“MIT DEM HINTERN AN DER WAND”

Zusätzlich kommt Volkswagen bei seinem im vergangenen Jahr aufgelegten Sparprogramm nicht so voran wie erhofft, das bis 2026 Einsparungen von zehn Milliarden Euro bringen sollte. Als Grund wird immer wieder genannt, dass das Abfindungsangebot auf weniger Zuspruch stoße als geplant. Cavallo bezifferte den Fehlbetrag auf drei Milliarden Euro, die nun noch gespart werden müssten. Davon entfalle aber nur ein geringer Teil auf die Arbeitskosten. VW kranke nicht an den deutschen Standorten und den Personalkosten, das Unternehmen kranke daran, dass der Vorstand seine Arbeit nicht mache, betonte Cavallo. “Wer die ganze Zeit mit dem Hintern an der Wand steht, bekommt kein Team hinter sich versammelt.”

Die Gewerkschaft wolle nun zügig in Verhandlungen mit dem Management eintreten, um eine Lösung für die Schwierigkeiten bei VW zu finden. “Wir stellen nicht in Abrede, dass es Themen gibt, dass die Situation ernst ist”, sagte Cavallo. “Es geht lediglich um den Weg.” Nötig seien Automodelle, die “uns die Kundschaft aus den Händen reißt”. Das betreffe insbesondere Einstiegsmodelle in der Elektromobilität.

Im ersten Halbjahr erwirtschaftete VW einen Gewinn von rund zehn Milliarden Euro, gut eine Milliarde Euro weniger als vor Jahresfrist. Die Investitionen in Entwicklung und Werke lagen zugleich bei rund 17 Milliarden Euro. Zu schaffen macht dem Konzern vor allem, dass es die Probleme bei der Software aus eigener Kraft nur schwer in den Griff bekommt.

POLITIK VERSPRICHT BEISTAND

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil will Volkswagen unter die Arme greifen, etwa arbeitsmarktpolitisch und über eine stärkere Förderung von Elektroautos. Eine Gesetzesvorlage für Steuererleichterungen für E-Autos lag am Mittwoch dem Kabinett vor. Erst sei jedoch das Unternehmen am Zug, machte Heil klar. “Deutschland muss ein starkes Autoland bleiben”, sagte er dem Sender RTL/ntv. Die Politik hat bei VW ein starkes Wort mitzureden – das Land Niedersachsen ist Großaktionär, Ministerpräsident Stephan Weil sitzt im Aufsichtsrat.

Einem Insider zufolge hat sich auch Bundeskanzler Olaf Scholz am Dienstag unter anderem von VW-Konzernchef Blume, Cavallo und Weil informieren lassen. In SPD-Kreisen hieß es, der Betriebsrat sehe die Energiekosten in Deutschland als größtes Problem. Deshalb werde erwogen, ob es nicht einen neuen Vorstoß zu einer Absenkung der Energiepreise geben sollte.

(Bericht von Christina Amann, Petra Wischgoll, Patricia Weiss und Andreas Rinke, redigiert von Ralf Banser. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter Berlin.Newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder Frankfurt.Newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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