“Jetzt ist plötzlich alles weg” – VW-Sparkurs verunsichert Osnabrück

– von Victoria Waldersee

Osnabrück (Reuters) – Der Sparkurs und drohende Werksschließungen bei Europas größtem Autobauer Volkswagen rufen bei Jörg Dilge schmerzhafte Erinnerungen hervor.

Denn es ist nicht das erste Mal, dass die Autofabrik in der niedersächsischen Stadt vor dem Aus steht. Schon vor 15 Jahren musste der Auftragsfertiger Karmann Pleite anmelden. “Es ist haargenau das Gleiche”, sagt der 58-jährige Unternehmer nun zu den Schwierigkeiten bei VW, während er am Werk vorbeifährt. “Wir waren sicher, es hieß immer, Karmann kann nicht untergehen, wie die Titanic. Dann ist es irgendwann doch passiert.”

Volkswagen hatte das Werk in Osnabrück im Zuge der Karmann-Insolvenz übernommen. Einige der Karmann-Mitarbeiter wechselten zu VW, andere suchten sich etwas Neues. Dilge machte sich mit einem Zulieferbetrieb selbstständig und baute für VW unter anderem Cabrio-Prototypen und Messeautos. Als das Werk anfing, in Schwierigkeiten zu geraten, seien die Aufträge immer langsamer gekommen, sagt er. “VW Osnabrück hat eine Auslastung von 18 Prozent. Da kann ich verstehen, wenn die Werksleitung sagt, sie wollen alles selber machen.”

Derzeit laufen in Osnabrück drei Modelle vom Band: Das T-Roc Cabrio sowie der Porsche Cayman und der Porsche Boxster. Doch nach derzeitigem Stand ist damit im Frühjahr 2026 Schluss: Erst vor wenigen Wochen kündigte Porsche an, die elektrischen Nachfolger der beiden Autos in Zuffenhausen zu fertigen. Das T-Roc Cabrio wird eingestellt. Ob danach ein neues Modell nach Osnabrück kommt, ist derzeit unklar. Ein VW-Sprecher verwies auf die laufende Planungsrunde, in der über die Belegung der Werke gesprochen werde und in der auch entschieden werde, wie es in Osnabrück weitergehen soll.

“WIR BRÄUCHTEN EIN ZUSÄTZLICHES MODELL”

Diese Unsicherheit habe es in den vergangenen 15 Jahren immer wieder gegeben, sagt Stephan Soldanski von der IG Metall. “Wir hatten die Wirtschaftskrise, den Diesel-Skandal, Corona-Krise, und immer wieder gab es keinen richtigen Auftrag für dieses Werk, immer nur Stückelwerk.” Auch Porsche habe ursprünglich nur 10.000 Elektrofahrzeuge in Osnabrück fertigen wollen. “Allen war klar, dass das nicht für die Stammbelegschaft ausreicht”, sagt Soldanski. Nun habe Porsche den Vertrag einseitig gekündigt. “Jetzt ist es noch dringender geworden”, beschreibt er die Lage. “Wir bräuchten ein zusätzliches Modell.”

Doch das ist im Moment zumindest nicht in Sicht. VW-Finanzvorstand Arno Antlitz verweist vielmehr auf die Marktschwäche in Europa. Zwei Millionen Autos werden von allen Autobauern zusammen europaweit weniger verkauft als vor der Corona-Pandemie – für den Marktführer VW bedeutet das, dass 500.000 Autos pro Jahr fehlen. Das entspreche der Produktion von zwei Werken. Mit der Ankündigung, den Sparkurs zu verschärfen, löste Volkswagen Anfang September ein Beben aus. Die Kündigung der seit drei Jahrzehnten geltenden Beschäftigungssicherung folgte. VW selbst äußert sich nicht dazu, welche Werke von einem Aus bedroht sein könnten, solange die Verhandlungen mit der Gewerkschaft über eine Reihe von Tarifverträgen liefen. Sollte tatsächlich eine Fertigungsstätte in Deutschland geschlossen werden, wäre das ein Novum in der Geschichte des Unternehmens.

Nach Daten des Analysehauses GlobalData liegt die Auslastung von VW über alle Werke betrachtet in Europa bei ungefähr 69 Prozent – als optimal gilt ein Wert zwischen 80 und 90 Prozent. Bei den Überkapazitäten sind die Wolfsburger nicht allein. Auch bei Autobauern wie Renault oder Stellantis laufen viel weniger Autos vom Band als möglich, insbesondere in Westeuropa, wo die Kosten besonders hoch sind.

“DAS LETZTE, WAS DANN GESCHLOSSEN WIRD”

Für die ungefähr 3000 Arbeiter in Osnabrück klang die Drohung mit Werksschließungen dennoch wie ein Todesurteil. “Man hat gedacht, nach 15 Jahren, ich bin auf der relativ sicheren Seite bei VW”, sagte Jürgen Placke, Betriebsratschef bei VW in Osnabrück. “Es gab die Beschäftigungssicherung, die auch für uns in Osnabrück gelten sollte, und jetzt ist plötzlich alles auf einmal weg.”

Doch es sind nicht nur die Volkswagen-Arbeiter, die sich jetzt Sorgen machen. Für Osnabrück mit seinen ungefähr 300.000 Einwohnern gehört Volkswagen zu den wichtigsten Arbeitgebern. Bricht das Werk weg, reißt das ein tiefes Loch. Ende September trafen sich die Bürgermeister der sechs Städte in Niedersachsen, in denen die VW-Werke liegen, mit zwei VW-Vorstandsmitgliedern, um über ihre Sorgen zu sprechen und für den Erhalt der Produktionsstätten zu werben. Sie fürchten einen Schneeballeffekt, wenn der größte Arbeitgeber wegfällt, der auch andere Unternehmen mit sich nach unten reißt – von Zulieferern über Logistikunternehmen bis hin zu den Dienstleistern, die das Essen für die Kantinen kochen.

Auch Dilge fürchtet um seine Heimatstadt. “Es wird ein kräftiges Loch geben. Ob man sich davon erholen kann, wage ich zu bezweifeln, weil jetzt ja keiner mehr da ist, der es auffangen kann”, sagt er und erzählt von anderen Werken wie dem Klöckner-Stahlwerk, die seit den 1980ern geschlossen wurden. Den Wegfall dieser Fabriken habe man immer noch auffangen können. “Aber hier ist nichts mehr mit auffangen. Das ist das Letzte, was dann geschlossen wird.”

(Geschrieben von Christina Amann, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter Berlin.Newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder Frankfurt.Newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)

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