Neue EU-Zulassungsregeln verursachen Engpässe bei Medizinprodukten

– von Maggie Fick

London (Reuters) – Seit Jahrzehnten verkauft die Osypka AG aus Rheinfelden in Baden-Württemberg medizinische Ausrüstung für Operationen an Neugeborenen.

Doch wegen neuer Vorschriften der Europäischen Union (EU) steht die Inhaberin Nicola Osypka vor harten Entscheidungen. Nach der im Mai 2021 in Kraft getretenen EU-Verordnung müssen alle Medizinprodukte – von Implantaten und Prothesen bis hin zu Blutzuckermessgeräten und Kathetern – strengere Sicherheitskriterien erfüllen. Dazu gehören auch neue klinische Studien. “Wir können uns die halbe Million Euro für eine klinische Studie nicht leisten”, sagt Vorstandschefin Osypka. Ihre Firma stellt Nischenprodukte wie etwa winzige Katheter für Neugeborene her, die schon seit 30 oder 40 Jahren auf dem Markt sind.

Reuters sprach mit weiteren sieben Herstellern von Medizinprodukten, die wegen der neuen Vorschriften Produkte vom EU-Markt genommen oder die Herstellung ganz gestoppt haben. Als Grund nennen sie die Kosten für die neue Zertifizierung, die um das drei- bis zehnfache höher lägen als unter den alten Regeln. Auch die Zeit bis zur Zulassung eines Produkts verlängere sich erheblich – auf bis zu zweieinhalb Jahre statt weniger Monate. Deshalb lassen einige Hersteller ihre Produktzertifizierungen einfach auslaufen. Das hat zur Folge, dass Krankenhäuser in der EU diese Medizintechnik nicht mehr verwenden dürfen.

Mit den neuen Vorschriften will die EU einen weiteren Gesundheitsskandal verhindern, wie ihn das französische Unternehmen Poly Implant Prothèse im Jahr 2010 im Zusammenhang mit gerissenen Brustimplantaten ausgelöst hatte. “Ein Gesetz, die illegalen Handlungen eines Unternehmens von vor zehn Jahren bekämpfen soll, gefährdet jetzt das Leben von Patienten, einschließlich Kindern, und europäische Produktionsstandorte”, moniert die Molekularbiologin Osypka, deren Vater ihre Firma 1977 gründete. Nun habe sie fünf in der EU verkaufte Produktlinien zurückgezogen. Die EU-Kommission erklärte auf Anfrage, sie werde alles in ihrer Macht Stehende tun um sicherzustellen, dass Patienten Zugang zu den von ihnen benötigten Medizinprodukten hätten.

ENGPÄSSE

Das kostspielige Zulassungsverfahren ist der jüngste Schlag für den zweitgrößten Medizintechnikmarkt der Welt mit einer Größe von über 150 Milliarden Dollar. Die Branche leidet bereits unter steigenden Energiekosten und Lieferkettenproblemen infolge der Corona-Pandemie. Selbst große Unternehmen mit tieferen Taschen und Erfahrung mit Regulierungsprozessen in anderen Ländern kämpfen mit der Komplexität des neuen Systems. So hat der schwedische Konzern Getinge inzwischen neue Zertifikate für rund 20 Prozent seiner hunderten von Produkten erlangt. Rund ein Drittel seiner Produktpalette hat er aber aussortiert. John O’Dea, Chef der kleinen irischen Firma Palliare, will seine neuen Instrumente zur Bauchspiegelung unbedingt auf den EU-Markt bringen und nimmt dafür Kosten von geschätzt 100.000 Euro in Kauf. Seit eineinhalb Jahren laufe der Zertifizierungsprozess schon – für ein Produkt, dass vor zwei Jahren von der US-Gesundheitsbehörde zugelassen worden sei.

Reuters sprach auch mit zwei Gesundheitsverbänden, drei Ärzten und zwei Regulierungsexperten zu dem Thema. Ihren Aussagen zufolge haben die neuen Regeln gravierende Folgen und sorgen für Engpässe bei wichtigen Medizinprodukten. So erklärte der Ständige Ausschuss der Europäischen Ärzte (CPME), dass Krankenhäuser in Österreich und Dänemark einen Mangel bei bestimmten Geräten gemeldet hätten. Auch Frankreichs nationale medizinische Aufsichtsbehörde ANSM sieht Engpässe bei verschiedenen Medizinprodukten, was teilweise auf das neue Gesetz zurückzuführen sei.

Am Universitätskrankenhaus im belgischen Leuven hat Marc Gewillig, Leiter der pädiatrischen Kardiologie, nach eigenen Angaben den Zugang zu fast einem Dutzend Geräten verloren, die er für Eingriffe benötige. Dadurch sei er gezwungen gewesen, bei der Behandlung von drei Babys mit Herzproblemen zu improvisieren. Im Normalfall werde der Eingriff innerhalb von fünf Minuten nach der Geburt durchgeführt, aber ohne das bevorzugte Gerät müsse er das Baby in einen anderen Teil des Krankenhauses verlegen, was den Eingriff um 30 Minuten verzögere. “Das sind Minuten bei einem Kind, in denen das Gehirn nur wenig Sauerstoff bekommt”, sagt er.

SYSTEMÜBERLASTUNG

Ein Problem sind die bürokratischen Kapazitäten in der EU, die neuen Zertifikate zu erteilen. Einem Sprecher der EU-Kommission zufolge gibt es derzeit nicht genügend Agenturen, die das übernehmen. Zugleich hätten sich die Hersteller nicht ausreichend auf die Änderung vorbereitet. Brüssel habe 36 Agenturen zugelassen und prüfe 20 weitere Anträge, ergänzte der Sprecher. Vor einem Jahrzehnt habe es unter dem alten System fast 100 solcher Agenturen gegeben, sagt Tom Melvin, außerordentlicher Professor für die Regulierung von Medizinprodukten am Trinity College Dublin.

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides schlug deshalb Anfang Dezember vor, die Übergangsfrist zur Einhaltung des neuen Gesetzes von Mai 2024 auf 2028 zu verschieben, um Engpässe zu vermeiden. Für die Verlängerung ist eine Gesetzesänderung erforderlich, die der Europäische Rat und das Parlament billigen müssen.

Ein Aufschub würde zwar bedeuten, dass einige Geräte kurzfristig nicht vom Markt genommen werden. Doch an den langen Verfahren und hohen Kosten würde dies nichts ändern, sagt Frank Matzek vom Berliner Herzgeräte-Hersteller Biotronik. Diese hielten Unternehmen davon ab, den Zertifizierungsprozess überhaupt zu starten. Die im Dezember von der EU-Kommission veröffentlichten Daten zeigen das Ausmaß des Problems: Während es etwa 25.000 Zertifikate nach dem alten System gibt, haben die Hersteller im Rahmen der neuen Regulierung bislang etwa 8.000 Anträge gestellt, von denen jedoch weniger als 2.000 genehmigt worden sind.

(Bericht von Maggie Fick und Tassilo Hummel, geschrieben von Philipp Krach; redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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