Investoren wollen virtuelle Hauptversammlungen verhindern

– von Alexander Hübner

München (Reuters) – Nur noch zwölf von 40 Dax-Konzernen hatten im vergangenen Jahr ihre Aktionäre persönlich zur Hauptversammlung empfangen.

Und für 2025 haben SAP und BASF einen Wechsel vom Präsenz- zum Online-Format angekündigt. Doch nun regt sich Widerstand gegen die virtuelle Hauptversammlung. Der einflussreiche Aktionärsberater ISS will Siemens wieder zu Präsenz-Hauptversammlungen zwingen. Die Beratungsfirma empfiehlt den Aktionären des Münchner Technologiekonzerns, auf der Hauptversammlung am 13. Februar gegen die Ermächtigung zu stimmen, die bis 2027 virtuelle Hauptversammlungen ermöglichen würde. Grundsätzlich sollte diese Art der Aktionärstreffen nicht zur Regel werden, betont ISS in seinen neuen Richtlinien.

Ingo Speich, Experte für gute Unternehmensführung beim Sparkassen-Wertpapierhaus Deka und regelmäßiger Redner auf Hauptversammlungen, sieht eine Trendwende: “Die Entwicklung hin zu virtuellen Hauptversammlungen ist erst einmal gestoppt”, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. “Wir werden vor allem im nächsten Jahr zunehmend Präsenz-Hauptversammlungen im Dax sehen.” Nur so hätten die Unternehmen die Chance, die nötige Zustimmung der Investoren zum virtuellen Format zu erhalten. Um den Aktionären wie seit 2021 über den Bildschirm statt in der Olympiahalle entgegentreten zu können, braucht der Siemens-Vorstand eine Dreiviertel-Mehrheit, die angesichts des Votums von ISS zumindest wackeln dürfte.

Den Empfehlungen von ISS folgen viele institutionelle Anleger vor allem aus den USA. Gerade mit Verweis auf internationale Investoren haben die Unternehmen das virtuelle Format propagiert, weil es ihnen die Teilnahme erleichtere. Auch SAP führt die veränderte Aktionärsstruktur und die binnen 20 Jahren von 10.000 auf 2500 Aktionäre gesunkene Teilnehmerzahl als Grund für den Wechsel an. Speich stellt jedoch fest: “Der große Run der ausländischen Investoren ist ausgeblieben.” Und die Präsenz sei auch sonst in der virtuellen HV nicht größer als in einer herkömmlichen.

Speich ist kein Freund des oft als blutleer kritisierten Online-Formats, auch wenn es ohne Hallenmiete und Mittagessen für die Aktionäre günstiger sei: “Die virtuelle HV leidet unter einem Defizit an Kommunikation. Kritik verhallt bei dem steifen Format. Der Austausch ist nicht so lebendig.” Viele Unternehmen wählen die virtuelle HV, weil sie Störern und Selbstdarstellern kein so attraktives Forum bietet. Bei der Volkswagen-Hauptversammlung 2023 in Berlin hatte eine von Menschenrechts-Aktivisten geworfene Torte Aufsichtsrat Wolfgang Porsche knapp verfehlt. 2024 wechselte VW zum Online-Format.

Als Notbehelf in der Corona-Pandemie eingeführt, hat die virtuelle Hauptversammlung seit 2022 eine gesetzliche Grundlage. Die Unternehmen müssen sie sich danach aber regelmäßig von der Hauptversammlung genehmigen lassen. Bei vielen Dax-Konzernen stehen die entsprechenden Beschlüsse in diesem Jahr wieder auf der Tagesordnung.

“WIE EIN BLANKOSCHECK”

Die Begründung von Siemens für virtuelle Aktionärstreffen sei “nicht überzeugend”, heißt es in der Stellungnahme von ISS. “Der Vorschlag wirkt wie ein Blankoscheck, Hauptversammlungen auch künftig nur im virtuellen Format abzuhalten.” Siemens hat sich Finanzkreisen zufolge schon für eine Abstimmungsniederlage gewappnet: Für 2026 habe man vorsichtshalber schon die Münchner Olympiahalle reserviert, in der die Hauptversammlung bis 2020 regelmäßig abgehalten worden war. Eine Siemens-Sprecherin wollte sich dazu nicht äußern, sagte aber, man habe mit virtuellen HVen “sehr gute Erfahrungen gemacht”.

Der unerwartete Widerstand der internationalen Investoren hat bei anderen Dax-Konzernen schon für ein Umdenken gesorgt. Der Halbleiter-Konzern Infineon will seine Aktionäre zur Zustimmung zum virtuellen Format bewegen, indem er in der Einladung zur Hauptversammlung mit der Aussicht auf ein Präsenz-Treffen im nächsten Jahr lockt. BMW lädt anders als in den vergangenen Jahren 2025 in die Münchner Olympiahalle ein. Man werde jedes Jahr neu entscheiden, sagte eine Sprecherin. Diesmal spreche nicht nur der Wechsel an der Aufsichtsratsspitze von Norbert Reithofer auf Nicolas Peter für das physische Format, auch der Beschluss zum neuen Vergütungssystem für den Vorstand stehe an. Die Allianz bleibt in diesem Jahr Investorenkreisen zufolge beim virtuellen Format, schließt aber eine Präsenz-HV für 2026 nicht aus.

Einen häufigeren Wechsel kann sich auch Deka-Experte Speich vorstellen. “Wenn keine großen Themen auf der Tagesordnung stehen, halten wir eine virtuelle HV für vertretbar”, sagte er zu Reuters. Bei Aufsichtsratswahlen, Kapitalbeschlüssen oder einer schwachen Aktienkurs-Entwicklung sei eine Präsenz-HV aber zwingend. Bei Siemens hätte er sie in diesem Jahr für angemessen gehalten – schon weil dabei mit dem ehemaligen Nestle-Chef Mark Schneider der designierte Nachfolger von Jim Snabe zur Wahl in den Aufsichtsrat ansteht. “Schließlich wirft seine Wahl durchaus Fragen auf, etwa nach seiner Technologie-Kompetenz.”

(Mitarbeit: Christina Amann und Hakan Ersen. redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)

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